Timeout e.V.Hofgut Rössle -- Jugendhilfe --Nessellachenweg 14D - 79874 BreitnauTel.
Alles wirkliche Leben ist Begegnung![1]
Daniel Götte
Bei Kolleginnen und Kollegen unserer Einrichtung entstand vor geraumer Zeit die Frage: Wie begegnen wir uns eigentlich als Menschen? Was bestimmt oder bildet unsere Gemeinschaft? Im Alltag sind Begegnungen zumeist beschränkt auf solche, die immer Belange der Jugendlichen, des Arbeitsalltags betreffen. Darüber hinaus befriedigen nur Teile des Kollegiums ihr Bedürfnis nach Austausch (und damit auch nach gemeinsam Erlebtem). Es ist deutlich eine tiefere Frage anwesend: Wer bist du? Häufig bildet sich ein Bedürfnis nach Gespräch, wenn es Konfliktpotenzial gibt oder Missverständnisse, oder mangelnde Strukturen Fragen aufwerfen, die nur durch externe Beratung, Supervision gelöst werden können. Ein Mangel an Begegnung war in unserem Team deutlich spürbar und damit verbunden die große Frage: Wie Abhilfe schaffen?
Durch Initiative einer Mitarbeiterin kam Vivian Gladwell mit einer Kollegin Catherine Bryden zu uns. Die erste Herausforderung: es wird nur englisch gesprochen! Ein Vorgeschmack auf eine Reise durch Unzulänglichkeiten und Unvermögen… Zunächst beginnt die Arbeit mit einfachen Übungen, die an Schauspiel erinnern, pantomimisches Theater: Eine Bühne wird eingerichtet (Der Saal getrennt durch eine Schnur), Regeln aufgestellt: 1. Auf der Bühne nur mit roter Nase! 2. Keine rote Nase jenseits der Bühne! Dann wird es schwieriger: Geh‘ auf die Bühne ohne jede Idee, was du tun wirst, ohne Vorstellung und Plan. Ein Schal liegt auf der Bühne. Es gilt ihn zu „entdecken“, wieder abzutreten. Mal sehen, was geschieht…
Im Laufe der Woche werden die Aufgaben schwieriger. Es wird von morgens bis zum späten Nachmittag gearbeitet. Die Aufgaben werden vielfältiger, komplexer. Geräusche kommen hinzu, Sprache. Abgesehen von den Aufwärmübungen am Morgen wird jede einzelne Übung zur Herausforderung. In einer geht es darum, mit einer anderen beliebigen Person auf die Bühne zu kommen (ohne Idee!) und spontan eine Geschichte entstehen zu lassen. Dabei helfen etwas die Verkleidung und die Nase, welche die eigene Identität „schützen“. Ansonsten ist man einander und dem Publikum „ausgesetzt“. Vivian und seine Kollegin Catherine begleiten das Geschehen mit gezielten Einwürfen und verhindern so ein Entgleiten in allzu absurde Situationen. Das Publikum (die anderen Kolleginnen und Kollegen) begleitet das Schauspiel und wird beim anschließenden Feedback aktiv in das Geschehen einbezogen.
Gegen Mitte der Woche gibt es etwas Unmut. Es wird Kritik laut. Zwei Mitarbeiter werden krank. Es ist eine Nadelöhr- Situation: Wir müssen da durch! Was ist geschehen? Wir arbeiten, es wird etwas von uns verlangt, wir sollen über unseren Schatten springen, sechs Tage lang… Man wird müde, man empfindet Unmut stereotypen Improvisationsweisen anderer Mitarbeiter gegenüber…
Es ist Zeit für das Mittagessen… Es schmeckt. Es gibt guten Kaffee, Gespräche.
Dann eine Impro am Nachmittag. Alle sind von der Spannung auf der Bühn erfasst. Es ist eine kleine Geschichte. Es geht um eine Spielzeugente und einen Schal… Und da ist er: Der Augenblick, wo man das Gefühl hat, dass alles stimmt. Ein Augenblick zwar nur. Aber eine kleine Begegnung, ein Aufleuchten von „Sich-verstehen“. Dann die nächsten Impros: die Augenblicke mehren sich. Überraschungen mehren sich: „So kenne ich Dich gar nicht! Hätte nie gedacht, dass Du so etwas kannst!“ Usf. Es geht der Aufführung am Freitagabend entgegen. Einem kleinen intimen Publikum soll etwas präsentiert werden. Wieder wissen wir nicht, was kommt. Keine Vorstellung, keine Ahnung von der Art der Übung. Es werden zwei weitere Übungen vor Publikum stattfinden. Bei einer soll sich A zur Stimme von B bewegen. Das Publikum lacht, applaudiert. Wir ziehen uns um.
Am nächsten Tag, es ist Samstag, gibt es eine letzte Aufgabe für jeden von uns: Diesmal mit Plan auf die Bühne und zusammenfassen, was man in der Woche erlebt und empfunden hat, was man mitgenommen hat, Abschied! Es sind sehr intime Bilder, die entworfen werden, sehr persönliche. Es wird gelacht und auch geweint. Es wird in einer anschließenden kurzen Feedback- Runde nochmals Gelegenheit gegeben, kurze persönliche Eindrücke zu schildern. Das Gespräch verdichtet sich bei der Frage nach Freiheit, nach Alltag, nach unserer gemeinsamen Arbeit mit den Jugendlichen. Unsere Clowning-week ist zuende. Wir treffen und noch einmal abends und gehen essen, sprechen über unsere Erfahrungen, verabschieden uns noch einmal.
Was ist geblieben?
Es sind Erinnerungen an Augenblicke, in denen Begegnung stattgefunden hat. Und es klingt einem im Ohr, was Martin Buber über die Beziehung von Ich und Du formulierte:
„Die Beziehung zum Du ist unmittelbar....
Zwischen Ich und Du steht kein Zweck, keine Gier und keine Vorwegnahme; Und die Sehnsucht selber verwandelt sich, da sie aus dem Traum in die Erscheinung stürzt.
Alles Mittel ist Hindernis. Nur wo alles Mittel zerfallen ist, geschieht die Begegnung.“[2]
Es ist, als ob man in einer Woche fast alle Saiten seiner Seelenharfe einmal angeschlagen hätte, manche öfter, manche seltener. Es sind immer wieder aufsteigende Bilder, die eine gewisse Unruhe auslösen. Szenen, die so fragil und kostbar waren, dass man sie nicht mehr „berühren“ möchte, andere, die so humorvoll waren, dass man heute noch lacht, wenn man an sie denkt, wieder andere, die so bizarr und surrealistisch waren…
Es sind Gedanken darüber, was wir eigentlich gemacht haben. Wir haben uns selbst einer Situation ausgesetzt, die wir unseren Jugendlichen ständig zumuten: Ein Lehrer, klare Regeln, klarer Ablauf, zeitliche und räumliche Begrenzung. Wir alle sind absichtlich zusammengekommen, um uns miteinander etwas zu erarbeiten, um selbst Grenzen zu überwinden und um unsere Mitarbeiter besser kennenzulernen. Es war ein neuartiges Erlebnis, sich in diesem Kontext wieder anstrengen zu müssen. Das Kennenlernen der Anderen blieb zunächst weit im Hintergrund. Zunächst erlebte man sich selbst, Angst, sich zu zeigen. Man konnte sich dabei ertappen, neidisch zu sein auf die Fähigkeit eines Anderen. Die eigenen Eitelkeiten sollte man als Gegner und Hemmschuh kennenlernen. Durchhalten… wie leicht von einem Anderen zu verlangen… Wie schwer, selbst durchzuhalten und nicht aufzugeben.
Warum Clowning? Warum nicht Schauspiel? Der Clown erlaubt es (und verlangt es), dass man seine gewohnten Verhaltensweisen abstreift. Alles, ob Mensch, Gegenstand oder Handlung, muss zur Frage werden. Es tritt das Staunen und Entdecken an Stelle von Wissen, Urteil und Begriff. Auf diese Weise öffnet sich eine im besten Sinne naive Welt, in der in geschütztem Rahmen, Begegnung stattfinden kann. Eine Begegnung auf Basis einer „Ich und Du – Erfahrung“ ohne die Bürde einer Genese, Funktion oder wie auch immer gearteten Beziehung, die von Sympathie oder Antipathie geprägt ist. Es entsteht ein Raum, der grundsätzlich von Zuneigung geprägt ist durch die naive Art des Clowns, der Welt zu begegnen. Hierbei spielt die große Erfahrung des Lehrers und Leiters eine wesentliche Rolle. Durch wenige aber gezielte Interventionen stütz und erhält er den unentbehrlichen Schutzraum.
Es vollziehen sich Momente, in denen man ganz das Gefühl hat, etwas von seinem Inneren zu zeigen, ohne aber „nackt“ dazustehen. Es sind auch viele Situationen, in denen man nicht das Gefühl hat, ganz mit sich in Übereinstimmung zu sein, vielmehr hat man durchaus über längere Strecken hinweg das Gefühl, einen Fehler nach dem anderen zu machen. Darauf kommt es an, sagt Vivian… „Stay with the problem!“ sagt er, wenn man das Gefühl hat, gerade alles falsch zu machen. In diesen Situationen kommt dem Publikum eine Hauptrolle zu. Wie gehen wir mit Fehlern anderer um? Nach einer Zeit spürt man, wie wir uns gerade selbst zu einem konstruktiven Umgang mit Fehlern erziehen. Vivian sagte nach einer katastrophalen Impro immer: „I liked very much, how you looked, when you entered the stage…“ oder so ähnlich. Jeder wusste genau, um was es ging. Er kritisierte mit seiner positiven Art einen bestimmten Vorgang, machte aber zugleich Mut, es weiter zu probieren. Es blieb das Gefühl, die Welt neu kennenlernen zu können. Das Staunen wiederzuentdecken. Für uns und für unsere Jugendlichen, denen wir ja eigentlich „unsere“ Welt zeigen. Wie wichtig ist es, wieder zu staunen! Wie schön ist auf einmal ein Schattenspiel, das sich an einem Fenster durch das einfallende Morgenlicht entspinnt.
Am tiefsten blieben Empfindungen haften, die sich in der direkten Begegnung mit anderen Teilnehmern ergaben. Gemeinsam eine kleine Geschichte zu „erleben“ bedeutet: Zunächst ganz den Anderen wahrnehmen und sich dann gemeinsam in einen schöpferischen Prozess hineinbegeben, gemeinsam erleben, was geschieht…
Hier können Momente einer „Ich- du – Beziehung“ aufleuchten, die über das Persönliche hinausweisen. Und genau hier, hat man das Gefühl, kann eine Gemeinsamkeit erwachsen, die jenseits von Missverständnissen und Konflikten zu einer echten Belastbarkeit und fruchtbaren Zusammenarbeit beiträgt. „Es gibt etwas, was man an einem einzigen Ort in der Welt finden kann. Es ist ein großer Schatz, man kann ihn die Erfüllung des Daseins nennen. Und der Ort, an dem dieser Schatz zu finden ist, ist der Ort, wo man steht.[3]
Clowning für Lehrer und Pädagogen?
Eigentlich Pflicht. Denn der Lehrer lernt mit den Augen des Kindes die Welt zu sehen. Wo sich bereits Hornhaut auf der Seele gebildet hat, können sich wieder sensible Wahrnehmungszellen bilden. Und: man lernt als Erwachsener seine Phantasie für Kinder systematisch zu schulen. Wie langweilig einstudiertes Erzählen sein kann, weiß jeder. Aber eine „Suppe“ aus einem „rostigen Nagel“ zu kochen, wer beherrscht das schon? Wer vertraut auf seine Phantasiekräfte?
Erst einmal zu horchen, was die Welt einem sagt, was der Andere einem sagen will, auszuhalten, dass „nichts“ geschieht… und dabei die eigenen reflexartig sich aufdrängenden Impulse zurückzuweisen… um etwas entstehen zu lassen… „No creates relationship, Yes creates a story“ pflegte Vivian zu sagen. Es sind viele Geschichten entstanden und Beziehungen wurden, so der Tenor beim Rückblick, gefestigt durch die Wahrnehmung des Anderen.
Wir sind dankbar und: es sei also das Clowning jedem empfohlen, Besonders Pädagogen und Anderen, die im Sozialen arbeiten… Man sehe sich nach einem guten Clown um und tue… jedenfalls: nichts Geplantes!
Die wahre Gemeinde entsteht nicht dadurch, daß Leute Gefühle füreinander haben (wiewohl freilich auch nicht ohne das), sondern durch diese zwei Dinge: daß sie alle zu einer lebendigen Mitte in lebendig gegenseitiger Beziehung stehen […]“[4]
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[1] Martin Buber (1878-1965)Ich und Du (1923)
In: Das Dialogische Prinzip.Verlag Lambert Schneider:4. Aufl. Heidelberg 1979
[2] Ebenda.
[3] Buber, Martin, Sich mit sich nicht befassen, in: Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre, Heidelberg:
Lambert Schneider 1981, S.45
[4] Martin Buber (1878-1965)Ich und Du (1923)
In: Das Dialogische Prinzip.Verlag Lambert Schneider:4. Aufl. Heidelberg 1979